„Der lange Weg der Linie” – Zum Werk des Malers Otto Zitko

Herbert Lachmayr

Eine Linie, die Otto Zitko zieht, wenn er malt, setzt die Linie fort, welche der Künstler schon vor langem begonnen hat. Mit dieser Linie ist er ,unterwegs', als einer, der nomadischen Prinzipien folgt, als einer, der in labyrinthischer Vernetzung einen Weg buchstäblich vorzeichnet und ihm nachgeht (respektive vorgeht und ihn nachzeichnet); als einer, der mit raumgreifenden Mal/Zeichen-Gesten ein zweidimensionales Lineament in vorhandene Räume setzt, sie dadurch dynamisiert, entgrenzt und sie um eine ungeahnte Tiefe bereichert, die zeitliche Dimension ahnen lässt.

Als Otto Zitko Ende der 80er Jahre zu malen aufhörte, hatte dies keinen Manifestcharakter – nach dem Motto „auch für mich ist die Malerei tot“; es bedeutete dies nicht die Abwendung von der Malerei und deren scheinbare Überwindung, sondern in dieser Entscheidung firmierte sich paradoxerweise der selbstkritisch geläuterte Grund, nur so Malerei weiter treiben zu können: nämlich im Verfolgen der Linie. Es ging dem Künstler nicht um einen Graphismus als fundamentalistische Ideologie nach aller Malerei, sondern Zitko bedient sich des langen Wegs der Linie (Titel einer Zeichnung von 1987), um eine Spur vor aller Malerei zu hinterlassen. Seine Priorität setzte er in das Zeichnen, welches ihm die aktuelle Form des Malens ist, in die fließend fortlaufende Linie, schließt aber aus, damit der konventionellen Malerei eine endgültige Absage zu erteilen.

Als nichtmalender Maler, der die flächenteilende Grenze als raumteilende – aber auch raumkonstituierende – Linie zum programmatischen Prinzip erhebt, macht er gerade das Paradoxe und Unmögliche als Utopie zu einer Kunstwirklichkeit. Indem sich die Linie auf den Weg zur Fläche begibt, die sie aber trotz aller Verdichtung und Intensivierung nie vollständig erreicht, wird die konsequente Absicht Zitkos deutlich, im dynamisierten Graphismus den Prozesscharakter von Kunstproduktion selbst im Resultat dominant erscheinen zu lassen. Mit dem ,Prinzip Linie' gelingt es dem Künstler dieses eindimensionale Mittel so zu verwenden, dass er alle weiteren Dimensionen damit erreicht. Die Linie, so wie Otto Zitko sie als künstlerisches Formelement, als existenzielles Bild oder als psychische Metapher verwendet, weist als exzentrisches Zentrum seiner Kunst jedenfalls in die unterschiedlichsten Richtungen. Delirös ist zum Beispiel ein Wort, das in der Benennung psychischer Zustände, ebenso wie borderline, etwas Prekäres und verhaltensmäßig aus der Norm Fallendes bezeichnet: eine Person, die sich in Grenzzuständen befindet, die möglicherweise von einem Extrem ins andre ,kippt', oder jemanden, der nicht genau weiß, wohin er gehört, der unzuverlässig und nicht belastbar ist, und dergleichen mehr. Delirös heißt buchstäblich de linea ire, ,über die Linie gehen', was im übertragenen Sinne einem psychischen Grenzgang gleichkommt. In der spezifischen Wortverwendung von Linie, wenn man an delirös denkt, gelangt man in den Bereich des Grenzgängerischen, also dem Aufenthalt im psychischen Niemandsland, einem in between, in dem rationale Domestizierung des Bewußtseins und die haltlosen Wünsche des Unbewussten sich konspirativ begegnen.

Für Vernetzungen hat der Künstler ein großes Faible. Die Metaphern des Reisens, des Unterwegsseins bedeuten für ihn als Künstlerfigur ein faszinierendes Existenzmodell – sich von Ort zu Ort, von Station zu Station zu bewegen, setzt sich in seinen Zeichnungen fort – unwillkürlich denkt man an Martin Kippenbergers U-Bahnstationen. Die treibende und getriebene Linie Otto Zitkos, auch ein existenzielles Symbol seiner Künstlerfigur, erschöpft sich nicht in der Fläche, sondern schafft drei- und mehrdimensionale Phänomene, indem sie vorhandene Räume zerstört. Bestehende Raumstrukturen wie z.B. in Venedig und Linz werden durch rabiate Linienführung dekonstruiert, um einen neuen, vielschichtigen Raum zu kreieren. Für die Biennale realisiert der Künstler eine Linienverdichtung, die dem Konzept der wabenartigen Durchgangssituation dieser Großausstellung entgegenwirken soll: wenigstens für Sekunden soll den Betrachtern der Raum zur Welt im Kopfe werden, bevor sie im Ausstellungslabyrinth weiterschreiten.

In Linz löst Zitko das nüchterne Stiegenhaus einer Galerie unter der Verdichtung seines Liniengraphismus auf, indem die Kanten und Ecken überspielt werden, verschwinden und eine knäuelartige Netzstruktur den Ausblick in eine neue Raumtiefe erzeugt: der Betrachter und die Betrachterin sind buchstäblich im Bilde, ja sie gehen darin ,hinauf' in den ersten Stock, den zu erreichen plötzlich nicht der funktional erschöpfende Sinn des Stiegenhauses mehr ist, sondern das befreiende wie beklemmende Erlebnis in diesem Raumbild sich vertikal zu bewegen. So wichtig für Zitko die raumschaffende und zugleich raumzerstörende Linienführung seines Malvorgangs ist, wenn die Erzeugung des Lineaments zugleich eine Zeiterzeugung ist, vollkommene Präsenz des Künstlers in absoluter Gegenwärtigkeit, so ist für ihn das Erleben seiner Bildräume durch die Betrachter zugleich auch deren Chance einer vollkommenen Wahrnehmung, in der Bewusstes und Unbewusstes mit gleicher Wichtigkeit vorhanden sind. Für Zitko ist die Produktion seiner Werke eine psychophysische Extension seines Körpers als Instrument des Malvorgangs, mental und profan-spirituell ist seine Aufmerksamkeit auf Aktualität fokusiert, obliegt er einem Exzess des Hier und Jetzt, der durch die labyrinthische Linie transportiert wird.

Etwa in der Kunsthalle Bern hat Zitko fünf Räume in drei Tagen und Nächten Non-Stop ausgearbeitet, hat sich der Unausweichlichkeit der Situation von Etappe zu Etappe, von Raum zu Raum gestellt, hat aus einer intensivierten Befindlichkeit heraus, der er seine Energie verdankt, aus einem gesteigerten Lebensgefühl künstlerisch agiert – die ästhetischen Entscheidungen werden im Augenblick getroffen, aus der Spannung des Moments heraus, in welchem die Pointierung des zeitlichen Jetzt ein räumliches Hier imaginiert und verwirklicht. Der kontemplative Kern einer derartigen Kunsttätigkeit ist gleichsam psychotechnisch disponiert und in der ästhetischen Produktionsstrategie begründet, indem der jeweilig komplexe künstlerische Akt von Situation zu Situation aktuell und konkret vollzogen wird und nicht nach konzeptioneller Planung von langer Hand. Dadurch wird der Künstler seinen Ambivalenzen in unmittelbarer Weise gerecht, setzt sich ihnen aus, konfrontiert sich damit und löst sie tatsächlich im Nu, und erhält sich dadurch das Spannungsgefüge der eigenen Widersprüchlichkeiten. So gesehen ist Zitko gewissermaßen ein realistischer Abstrakter der alternden Moderne, eine avantgardistische Künstlerfigur, die in der Perfektion des Noch-Nicht mit dem Nie-Erreichten und dem Un-Vollendeten in Vollendung arbeitet – insofern ist er auch Romantiker: die Realität seiner Linie ist zugleich der Traum auf und in ihr unterwegs zu sein.

Es sind die Faktoren Bewegung und Beschleunigung, die in den Werken Zitkos als „Zeitkern", wie es Adorno nennt, schon vom Produktionsvorgang her im Resultat, dem sogenannten Werk, gleichsam magisch gebannt aufbewahrt sind, um vom kongenialen Betrachter in dieser Dynamik rezipiert und damit neu aktualisiert werden zu können. „Was an den Kunstwerken knistert, ist der Laut der Reibung der antagonistischen Momente, die das Kunstwerk zusammenzubringen trachtet; Schrift nicht zuletzt deswegen, weil, wie in den Zeichen der Sprache, ihr Prozessuales in ihrer Objektivation sich verschlüsselt. Der Prozesscharakter der Kunstwerke ist nichts anderes als ihr Zeitkern." (Th. W. Adorno) Zitkos Linien sind so gesehen auch Kaligraphismen einer nicht buchstäblichen Schrift, sind auch psychische Gravuren einer Sedimentierung von Zeitlichkeit, deren Spurencharakter zugleich auch die Notation für die Wiederaufführbarkeit, sprich Erlebbarkeit des zu rezipierenden Kunstwerks ist. Otto Zitko – und darin erweist er sich als Avantgardist – verfolgt mit seinen ästhetischen Interventionen per lineam das Ziel eines Extrem-Subjektivismus, einer künstlerischen Produktionshaltung, die sich in einer höchst subjektiven Auffassung und Deutung von realen Rahmenbedingungen unseres Lebens – wie Flächen und Räume – der sogenannten Objektivität entgegenstellt.

In einer Zeit der scheinbaren allgemeinen Verfügbarkeit von Räumen, wie es der Cyberspace in multimedialer Präsenz suggeriert, gewinnt Otto Zitkos Kunst der offenen Linie – Räume zu dekonstruieren und sie in subjektiver Qualität neu zu kreieren – einmal mehr an Aktualität. Was in den digitalen Medien als technologisch perfekte Vorgabe zu individueller Passivität verleiten mag, ist bei Zitkos Kunst einer Verortung der Zeit durch die Linie höchste Aktivität und prononcierte Subjektivität. Darin dokumentiert sich ein Kontrast zum passiven user digitaler Medienräume, deren Virtualität sehr wenig mit jenen Möglichkeitswelten der zitkoschen Bild-Raum-Kreationen zu tun hat. Deren visionärer Charakter vertraut auf die Imaginationskraft des Individuums und seine vitale wie sensible Kreativität Umgebungen nach der eigenen Welt im Kopf zu gestalten, sprich anzueignen. So gesehen ist die Linie kreatürlicher Raumteiler, erzeugt Raum; ein ins Nichts gesetzter Punkt lässt Raum entstehen – dieser Faszination künstlerischer Schöpfung als einer nahezu archaisch anmutenden Leistung menschlicher Originalität verdankt sich Zitkos Obsession der Linie als Malkunst unserer Zeit.

 

Dieser Text wurde publiziert in: Otto Zitko. Cheim & Read Ausstellungskatalog, New York/Wien 2000.